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Der „kleine“ Riese Ingrimm

Ingrimm ist der Kleinste aller Riesen. Er ist kaum halb so groß wie die anderen, doch seine Hände sind sanfter, seine Augen heller.

Die Alten lachen leise über ihn – sie sagen, er sei zu weich für die Welt der Steine. Aber Ingrimm fühlt die Magie der kleinen Dinge stärker als jeder andere: das Rascheln der Blätter, den Herzschlag eines Vogels, das Lachen eines Kindes. Manchmal sitzt er am Rande der Zwischenwelt und beobachtet die anderen Völker – die Feen, die Elfen, die Buschweiblein. Er beneidet sie um ihre Nähe zueinander, um ihr Lachen, ihre Feste, ihre Berührungen. Er selbst ist zu groß, um mit ihnen zu tanzen, zu stark, um sie zu umarmen – und zu weichherzig, um sie je zu verletzen.

So baut er sich eine Hütte am Rand des Waldes, halb aus Stein, halb aus Moos. Dort lebt er still, aber nicht einsam. Denn die Tiere suchen seine Nähe: Vögel bauen ihre Nester in seinem Bart, Rehe legen sich an seine Füße, und manchmal schläft sogar ein Fuchs in seiner riesigen Hand. Wenn Ingrimm traurig ist, hebt er den Blick zum Himmel und flüstert: „So groß bin ich – und doch passe ich nirgends hinein.“ Dann weht der Wind über die Berge und trägt seine Worte hinunter in die Täler. Und wer in solchen Nächten gut hinhört, meint im leisen Säuseln des Windes eine Stimme zu vernehmen – tief, warm und traurig – wie das Herz eines Riesen. Ingrimm ist anders als die anderen Riesen. Während sie durch Täler stapfen und Felsen rollen, sitzt er oft still da und beobachtet die Welt um sich herum. Er lauscht dem Summen der Bienen, dem Rascheln der Bäume und dem Ruf der Vögel, die über ihm kreisen. 

Manchmal legt er seine große Hand in den Bach, der an seiner Höhle vorbeifließt, und lässt das Wasser über seine Finger rinnen, als wolle er es trösten. Doch in seinem Innersten fühlt er eine Leere, die kein Lied des Windes füllen kann. Er sehnt sich nach einem Wesen, das ihn versteht – nach jemandem, mit dem er schweigen kann, ohne sich einsam zu fühlen. Eines Morgens, als die Sonne noch tief steht und Nebel wie Schleier über den Tälern liegt, fasst Ingrimm einen Entschluss. Er steht auf, klopft sich den Staub von den Schultern und spricht leise, fast flüsternd: „Ich will hinaus in die Welt. Vielleicht finde ich dort jemanden, der mein Herz sieht – und nicht meine Größe.“ So beginnt seine Reise. Er geht durch das Reich der Zwerge, wo das Hämmern der Schmieden wie fernes Donnergrollen klingt. 

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Die Zwerge halten ehrfürchtig Abstand, denn Ingrimm ist für sie ein wandelnder Berg. Doch als sie sehen, wie sanft er spricht und wie vorsichtig er tritt, laden sie ihn ein, an ihrem Feuer zu sitzen. Dort erzählten sie ihm Geschichten vom Feensilber und vom Glanz der Edelsteine. „Schön ist das alles“, sagt Ingrimm lächelnd, „aber ich suche kein Silber und keinen Stein. Ich suche ein Herz.“ Die Zwerge nicken, aber keiner kann ihm helfen. Denn Herzen, die im Takt eines anderen schlagen, sind selten – selbst unter den Kleinsten. Weiter zieht Ingrimm, durch Wälder voller Nebel und Wiesen voller Licht. In der Zwischenwelt trifft er auf das Buschvolk. Die Buschweiblein klettern neugierig auf seine Schuhe, und die Kinder laufen lachend zwischen seinen Fingern hindurch. „Du hast sanfte Augen, Großer“, ruft Kira, eines der Weiblein, „aber dein Blick geht weit fort. Wonach suchst du?“ „Nach jemandem, der bleibt“, antwortet Ingrimm. 

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Da schweigen sie, und eines der ältesten Buschweiblein legt ihm eine winzige Blume auf die Hand.

„Trag sie bei dir“, sagt sie. „Wenn sie zu leuchten beginnt, bist du angekommen.“

Und so zieht der Riese weiter, mit einer Blume auf seiner Handfläche, die kaum größer ist als ein Regentropfen. Er wandert durch das Reich der Feen, doch sie fliehen vor ihm – zu groß, zu laut, zu fremd ist er.

In den Bergen der Elfen spricht niemand mit ihm, denn seine Schritte lassen den Boden erbeben, und die Elfen fürchten, er könnte ihre zarten Brücken zerbrechen.

Je länger Ingrimm wandert, desto schwerer wird sein Herz. Er setzt sich auf einen Felsen und blickt hinauf zum Himmel. Wolken ziehen vorbei, wie Gedanken, die man nicht fassen kann. „Vielleicht bin ich dazu gemacht, allein zu bleiben“, seufzt er.

Da hört er eine Stimme. Zart wie das Klingen von Wasser auf Stein. „Warum sprichst du mit dem Himmel, Riese?“

Vor ihm steht eine Gestalt, so klein, dass sie kaum über den Rand seiner Schuhe reicht. Eine Elfe – doch anders als die anderen, die er gesehen hat.

Ihre Flügel glimmen mattblau, als hätten sie das Licht des Abends eingefangen.

„Weil der Himmel antwortet, wenn niemand sonst es tut“, sagt Ingrimm sanft.

Sie lacht leise. „Und was hat er dir gesagt?“

„Dass selbst der größte Stein weich werden kann, wenn er ein Herz findet, das ihn berührt.“

Da tritt die Elfe näher. „Dann bin ich vielleicht gekommen, um es zu berühren“, flüstert sie.

Von diesem Tag an bleibt sie bei ihm. Sie nennt sich Miranda, ist weder ängstlich noch stolz. Sie zeigt ihm, dass Nähe nichts mit Größe zu tun hat. Sie sitzt auf seiner Schulter, erzählt Geschichten, und manchmal singt sie so leise, dass nur sein Herz es hören kann.

Ingrimm lacht wieder, und das Echo hallt durch die Täler wie ein freundliches Gewitter. Und als er eines Abends die kleine Blume auf seiner Hand ansieht, glüht sie – still und hell, wie ein Stück Mondlicht.

Er lächelt „Ich bin angekommen“, sagte er.

Und die Erde atmet auf, als hätte sie es längst gewusst.


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Der Wolf der Schatten

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Noch ist es still in der Zwischenwelt. Nur das Tropfen des Wassers hallt in den Höhlen der Zwerge wider und das leise Klirren ihrer Werkzeuge, wenn sie das magische Feensilber aus den Felsen lösen.

Doch eines Morgens bebt die Erde. Erst schwach, dann stärker, bis selbst die mächtigsten Stalaktiten erzittern. Ein dumpfes Grollen dringt aus der Ferne – kein Donner, kein Bergsturz, sondern das Knurren eines Wesens, das alt ist wie die Welt selbst.

„Etwas ist erwacht“, murmelt Avid der Oberzwerg und legt die Hand an den Felsen. Er spürt es deutlich: Eine Macht, roh und uralt, kriecht durch die Adern des Trellfenlands. Schon bald verbreiten sich Gerüchte. Die Buschweiblein erzählen, sie hätten in der Nacht glühende Augen zwischen den Bäumen gesehen, groß wie Feuerräder. Ein Troll behauptet, er habe ihn gehört– einen Wolf, so gewaltig, dass sein Heulen das Herz selbst der Felsen erzittern ließ. Niemand weiß, woher er kommt. Doch viele flüsterten, es sei der Fenriswolf, der einst die Götter bedrohte und vom Meeresgott selbst in die Finsternis verbannt worden war.

„Unmöglich“, sagen die Elfen. „Vielleicht“, sagen die Feen. „Ganz gewiss“, sagen die Buschweiblein und schließen in Angst ihre Türen. Überall im Trellfenland herrscht Unruhe. Die Tiere fliehen aus den Wäldern, selbst die alten Bäume scheinen sich zu neigen, als wollten sie sich verbergen. Nur die Zwerge bleiben ruhig. „Wenn es der Fenriswolf ist“, spricht Avid, „dann werden wir ihn erneut binden. Wie damals, als die Welt noch jung war.“ Seine Stimme war ruhig, aber in seinem Blick glomm ein hartes Feuer. „Und wenn es nur ein Wolf ist?“ fragt da ein junger Zwerg zögerlich. „Dann werden wir es herausfinden“, antwortete der Oberzwerg.

Da tritt der kleinste von ihnen hervor – ein schmächtiger, doch kluger Kerl namens Brumli, dessen Augen funken wie frisch geschliffene Steine. „Wir dürfen kein Risiko eingehen“, sagt er ernst. „Ob Dämon oder Tier – wir müssen ihn bändigen, bevor er das Lichtreich erreicht. Sonst wird er Tod und Schrecken bringen.“ Die anderen nicken. Und so beginnt in den Höhlen der Zwerge ein emsiges Treiben wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Das Hämmern hallen bis in die Zwischenwelt, das Schlagen der Hämmer verschmilzt mit den Gesängen der Schmiede. Sie graben das Feensilber tiefer als je zuvor, schmelzen es im Licht der Glutsteine und weben daraus ihre mächtigen Zaubernetze. Jedes einzelne wird durch Runen gesegnet, und jedes ist so fein, dass kein Wind es tragen kann – und doch so stark, dass selbst ein Dämon sich nicht daraus befreien würde.

Zwei Wochen und drei Nächte lang arbeiten sie. Kein Zwerg schläft. Am Ende stehen sie vor einem Netz, das im Dunkel der Höhle wie flüssiges Licht schimmert. „Fertig!“, ruft Avid, der Oberzwerg, schließlich und stemmt sich mühsam aus der Schmiede. „Die Jagd kann beginnen.“ Sie packen ihre Waffen und machen sich auf den Weg. Durch enge Stollen, über Felsen und hinaus in die kühle Nacht. Im fahlen Licht des Mondes wirkt das Trellfenland still, doch die Erde vibriert unter ihren Füßen.„Er ist in Bewegung“, flüstert Brumli. Und tatsächlich – in der Ferne heult etwas. Tief, uralt und voll Zorn.

Die Buschweiblein, die sich in den Ästen versteckt hallten, flüstern ihnen zu: „Er zieht nach Osten! Ins Reich der Lichtkönigin!“ „Dann eilen wir dorthin“, entscheidet der Oberzwerg. „Denn dort darf er nicht ankommen.“ Sie marschieren weiter, Stunde um Stunde, bis der Himmel sich färbt. Dann sehen sie ihn. Zwischen den Nebeln des Morgens tritt der Wolf hervor – gewaltig wie ein Gebirge, das sich bewegt. Sein Fell ist schwarz wie Rauch, seine Augen glühen wie geschmolzenes Erz. Jeder seiner Schritte lässt den Boden erbeben. „Bei allen Göttern“, haucht ein Zwerg, „das ist kein gewöhnliches Tier.“ Der Fenriswolf sieht sie und lacht – ein Laut, der eher ein Beben ist als ein Geräusch.

„Ihr kleinen Felsenläufer“, grollt er, „habt ihr vergessen, wie ich die Welt einst erzittern ließ?“ Doch die Zwerge weichen nicht. „Wir vergessen nie“, antwortet Avid, „und wir vergeben nicht.“ Dann schleudern sie ihre Netze aus Feensilber. Sie fliegen wie Licht, umwickeln seine Beine, seinen Hals, seine Flanken. Der Wolf brüllt, beißt, tobt, doch das Zaubergarn hält. Funkenschauer regnen, als seine Klauen auf die Felsen schlagen. Die Erde bebt, Bäume stürzen. Doch die Zwerge singen weiter ihre uralten Lieder, die Lieder der Bindung, die selbst Dämonen in Ketten legen. Und endlich, nach einem letzten Aufbäumen, fällt der Fenriswolf zu Boden.

Sein Atem geht stoßweise, dampfend und schwer. „Ihr könnt mich fesseln“, knurrt er, „aber niemals bändigen. Ich werde wiederkehren. Ich bin der Schatten hinter jedem Licht.“ Dann wird es still. Nur das Flackern des Mondes gleitet über das Netz. Das ist der Augenblick, der die Buschweiblein wie Funken aus den Bäumen regnen lässt. „Gebt ihm den Zaubertrank, damit die Riesen ihn wegtragen können“, sagt der Oberzwerg leise. „Jetzt ruht er, aber nicht ewig. Wir haben Zeit gewonnen, mehr nicht.“ Und so schaffen die Riesen den Wolf fort und sperren ihn in ein Gehege, umgeben von einem hohen Zaun aus Feensilber. Die Zwerge aber ziehen heimwärts, erschöpft, doch stolz. Ihre Schritte hallen durch das Gestein, begleitet vom Klang der Hämmer, der wieder Hoffnung in die Zwischenwelt trägt. Denn im Trellfenland weiß man nun: Solange die Zwerge wachen, bleibt das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten bestehen.

Die Geldmännlein

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Zu den Buschweiblein gehören auch die Geldmännlein – eine ganz besondere, ja etwas eigensinnige Verwandtschaft. Sie sind kleiner als die Buschweiblein, tragen meist grüne Kittel und glänzende Knöpfe, und ihre Mützen funkeln, als hätten sie Sonnenstrahlen eingefangen. Doch sie sind nicht aus Gold – oh nein–, sondern aus einem feinen Faserstaub, der im Mondlicht glitzert wie Sternenmehl. Wie ihre Verwandten lieben sie den Duft von frisch Gebackenem, warmem Brot und süßem Kuchen. Aber auf den Feldern der Menschen zu arbeiten, Korn zu ernten oder im Haus zu helfen – das wäre ihnen viel zu mühsam. „Warum schwitzen, wenn man zaubern kann?“, sagen sie und zwinkern verschmitzt. Denn die Geldmännlein besitzen eine besondere Gabe: Sie können aus der Alraune Goldstücke machen – rund, glänzend und schwer. Ein Schimmer davon genügt, und schon glitzern die Augen der Menschen heller als jeder Stern. Das verstehen die Buschweiblein allerdings überhaupt nicht. „Was soll man denn mit so etwas anfangen?“, schimpfen sie oft. „Gold duftet nicht, man kann es nicht essen, es wärmt nicht und singt keine Lieder. Warum also lieben die Menschen es so?“

Doch die Menschen denken da ganz anders. Und sie hoffen: Wenn man ein Geldmännlein freundlich stimmt, kann man über Nacht reich werden. Darum stellen sie abends kleine Truhen oder Kisten in ihre Kammern, legen ein paar Münzen hinein und hoffen, dass ein Geldmännlein kommt, um sie zu vermehren. Und sie stellen kleine Tische mit Leckereien bereit – dampfende Klöße, Honigkuchen, frisches Brot, und süßen Apfelwein.Wenn den Geldmännlein der Duft gefällt, schleichen sie durchs Schlüsselloch oder huschen durch Ritzen und Mauerspalten. Mit blitzenden Augen und flinken Fingern beginnen sie ihr Werk: Sie rollen die Alraune, murmeln geheimnisvolle Sprüche – und ehe man sich versieht, klimpert es in den Truhen doppelt so laut wie zuvor. 

Doch die Geldmännlein sind nicht dumm. Sie erkennen gierige Herzen, noch bevor der erste Goldglanz aufleuchtet. Und wer sie fangen oder betrügen will, erlebt sein blaues Wunder. Denn manche Menschen sind so gierig, dass sie versuchen, die Geldmännlein einzufangen. Sie warten, bis das kleine Wesen in der Truhe arbeitet, und zack! – lassen sie den Deckel zuschnappen, wie eine Mausefalle. Aber das ist töricht, denn Geldmännlein vergessen nichts. Zwar tun sie so, als hätten sie sich gefügt, und lassen sogar die Münzen in der Kiste auf wundersame Weise wachsen. Doch sobald der Habgierige sie stolz in seine Taschen steckt und das Haus verlässt, passiert etwas Merkwürdiges: Ein warmer Wind weht und die Münzen beginnen zu bröckeln – und wenn sie in die Hand eines anderen fallen, zerfallen sie zu Kuchenkrümeln. Manche sagen, sie duften dann nach frischem Apfelstrudel, andere schwören, sie riechen nach süßem Hefeteig. Die Buschweiblein lachen jedes Mal, wenn sie davon hören. „Das geschieht ihnen recht“, rufen sie, „sollen sie doch mit Krümeln zahlen!“ Und so erzählen sich die Wesen des Waldes bis heute Geschichten über die schlauen Geldmännlein, die den Menschen Gaben bringen – aber nur jenen, die mit ehrlichem Herzen bitten und nicht mit gierigen Händen greifen. Denn im Trellfenland gilt seit uralten Zeiten: Wer mit Gier nimmt, verliert. Wer mit Freude teilt, gewinnt. Und manchmal, wenn nachts der Mond durch die Wolken lugt und ein süßer Duft über die Felder zieht, hört man ein leises Klimpern im Wind – dann sind sie unterwegs, die Geldmännlein, auf der Suche nach einem guten Menschen und einem Stück warmen Kuchen.